Wie Spannungen und Paradoxien Kreativität und Innovation in Unternehmen fördern können

“Es geht nicht nur um offene Innovation, sondern um Offenheit gegenüber Innovation.”

— Curley und Salmelin [1]

„Wenn man Innovation und Kreativität doch nur in eine Box stecken könnte! Man könnte sie für viel Geld an jede Organisation da draußen schicken,“ sagte ein Freund neulich zu mir. Gar keine schlechte Idee, oder? Es gibt bereits einige Ansätze, die sich darauf spezialisiert haben – zum Beispiel Adobe Kickbox und diverse Design (thinking) kits. Mittlerweile bieten zahlreiche Beratungsfirmen Innovationsboxen an. Doch kann es wirklich funktionieren, Kreativität und Innovation in einen festen Rahmen zu packen? Lebt doch eine offene Kultur vielmehr von persönlicher Motivation und einem bestimmten Mindset als von Management-Tools, Vorlagen und Abläufen. 

Seit über zehn Jahren ist jedenfalls zu beobachten, dass der Bedarf an innovativem Denken in Unternehmen kontinuierlich steigt – und zwar in einem breiten Branchenspektrum. Dass Unternehmen großen Aufwand treiben, um ihre Innovationskraft und ihre kreativen Ressourcen zu stärken, zeigen Ansätze wie Workong Out Loud oder Design Thinking (und viele mehr). Auch der Stellenmarkt verrät etwas über diese Entwicklung: Kreativkräfte wie Innovationsmanager oder Design Thinking Manager werden mittlerweile in beinahe jeder Branche händeringend gesucht – ob im Versicherungswesen, im Bankenwesen oder im Non-Profit-Bereich. Auch das Innovationsbusiness boomt: Die Angebotspalette im Bereich Innovations- und Kreativitätsmanagement, mit dem sich Dienstleister und Programmentwickler an Unternehmen richten, ist deutlich angewachsen.

Scheint doch wie geölt zu laufen, die Innovationsmaschinerie. Doch der Eindruck trügt. Organisationen sehen sich mit enormen Spannungen konfrontiert: 

  1. Sie stehen unter hohem Innovationsdruck. Zugleich müssen sie ihr klassisches Geschäft aufrechterhalten – und das umso mehr, je etablierter sie sind. Das verleitet schnell dazu, einfache Wege zu gehen, Abkürzungen zu nehmen und Herausforderungen nicht zu Ende zu denken. 

  2. Ihnen läuft die Zeit davon, weil sich neue Wettbewerber in klassischen Märkten etablieren und das Spiel verändern. Gleichzeitig lähmen Faktoren wie die eigene eingeübte und manifeste Organisationskultur. 

  3. Am Markt und in der Organisation fehlt es an Innovationskräften, die qualifiziert bzw. erfahren genug und gleichzeitig hinreichend „radikal” in ihrer Vorgehensweise sind.

Wir beobachten, dass die meisten Organisationen – ob aus Wirtschaft, Kirche oder Non-Profit – tagtäglich mit diesen Herausforderungen zu tun haben. Wenn nun schon offensichtliche Artefakte nicht so leicht zu verändern sind, wie steht es dann um die nicht offensichtlichen Faktoren wie die eigene Organisationskultur? Gibt es womöglich Ansätze oder gar empirische Hinweise, die Kulturwandel gelingen lassen und eine Kultur begünstigen,in der ungewöhnliche Ideen größtmöglichen Entfaltungsraum bekommen, so dass Veränderungen möglich werden?

“Der Feind der Kunst ist die Abwesenheit von Begrenzungen.”

— Orson Wells [2]

Warum Spannungen nicht das Problem sind 

Die Antwort liegt jedenfalls nicht darin begründet, wie sich derartige Herausforderungen und Spannungen beseitigen lassen, sondern wie man mit ihnen umgeht. Begrenzte Ressourcen beispielsweise müssen nicht, wie man meinen könnte, für eine Kreativitätsflaute sorgen – im Gegenteil. Besonders innovative und kreative Menschen machen immer wieder die Erfahrung: Je eingeschränkter sie in ihren Möglichkeiten sind, desto kreativer sind sie. Auch Untersuchungen zeigen, dass Spannungen die Ideenfindung anregen können. Entscheidend ist: Betrachtet man sie als Probleme, die es zu lösen gilt? Oder – und hier liegt der Schlüssel, Spannungen als Kreativmotor zu nutzen – als etwas, das sich managen lässt? Dahinter steckt das sogenannte paradoxe Mindset, in dem Spannungen nicht nur ausgehalten werden, sondern als Chance für Wachstum begriffen werden. Ein paradoxes Mindset fördert Kreativität und Innovation.

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Die Kultur für ein paradoxes Mindset schaffen

Ein solches Mindset entfaltet sich jedoch nicht von selbst – es braucht eine unterstützende Kultur, um gehört zu werden und Wirkung (Impact) zu erzielen. In unserer westlichen (Unternehmens-)Kultur wird noch unterschätzt, welche Rolle Zurückgezogenheit spielt, um kreative Prozesse zu ermöglichen – und damit auch das Potenzial zurückhaltender Menschen. In Ideenfindungsprozessen werden die, die gern im Stillen arbeiten und sich vertiefen eher übergangen, weil sie sich Zeit nehmen, um abzuwägen, bevor sie Entscheidungen treffen. Doch an Zeit mangelt es in Projekten am meisten. Schnelle Lösungen werden bevorzugt. Häufig tun sich deshalb die Extrovertierten, Lauten und Schnellen als Problemlöser hervor. Die Art zurückhaltender Menschen kommt daher nicht nur weniger zum Zug, sie wird oft auch abgewertet: als schüchtern, verrückt, autistisch, eigenwillig oder „nerdy“ (was nebenbei auch arbeitsethische Fragen aufwirft). 

Doch wo Bedürfnisse Introvertierter übergangen werden, wie zum Beispiel in Großraumbüros mit konstant hohem Lärmpegel, werden auch Talente übersehen: Persönlichkeiten wie Steve Wozniak, Rosa Parks und viele andere Introvertierte, die zu ihrer Zeit großen Einfluss genommen haben. Das ist einer der Gründe, warum sich Susan Cain in ihrem TED Talk für eine Ausgewogenheit zwischen Extro- und Introvertiertheit starkmacht. Es liegt nahe, dass gerade Introvertierte eine Kultur prägen können, in der das paradoxe Mindset aufblühen kann. Vereinzelt gibt es deshalb bereits alternative Ansätze, in denen Zuhören und Bedachtsamkeit im Fokus stehen und „die Verrückten“ sehr geschätzt werden.

Das Potenzial zurückhaltender Menschen

Wo nun der Kreativitäts- und Innovationsbedarf hoch ist, ist demnach auch der Bedarf groß, diesem versteckten Potenzial in Unternehmen auf die Spur zu kommen. Bislang gibt es allerdings nur vereinzelt Bücher und Materialien, die sich diesem versteckten Potenzial widmen. In Programmen wird noch viel zu wenig Wert auf Menschen im Hintergrund oder auf bereits vorhandene Ressourcen gelegt. Führungspersonen müssten sich stärker damit auseinandersetzen, welche Persönlichkeit mit welchem Skillset für welche Rolle geeignet ist. Es gibt etwa Aufgabenbereiche, die mehr Fokus, Ruhe und Zurückgezogenheit erfordern als andere. Ein Arbeitsplatz, an dem Menschen ständig miteinander interagieren und Ideen austauschen, ist womöglich nicht der richtige Platz für Introvertierte.

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Neueste Untersuchungen zeigen, dass es im Umgang mit Menschen, die die Grundlagen für ein paradoxes Mindset mitbringen, zwei Dimensionen zu bedenken gibt: ihre kognitive und ihre emotionale Welt. Sie brauchen Raum außerhalb der üblichen Umgebung, um ein paradoxes Mindset auszubilden. Dabei können Reflektion, Begleitung durch Coaches und Mentoren, Vertrauensbildung und praktische sowie akademische Lernmethoden eine wesentliche Rolle spielen. Auf diese Weise können sie Expertise aufbauen, um mit Spannungen und komplexen Anforderungen umzugehen, und Strategien entwickeln, um mit verschiedenen Rollen klarzukommen. Ist dieser Ansatz von Erfolg gekrönt, sind sie potenzielle Multiplikatoren („kulturelle Botschafter“) innerhalb ihrer Organisation und können wiederum andere darin unterstützen, mit Spannungen und Paradoxien umzugehen. 

Um ein Umfeld zu schaffen, in dem „die Verrückten“ mit ihren ungewöhnlichen Blickwinkeln und kreativen Zugängen geschätzt und gehört werden, braucht es eine andere Haltung ihnen gegenüber, die sich auch in der Unternehmenskommunikation und -struktur wiederfindet. Dazu müssen Organisationen

  1. das paradoxe Mindset verstehen und ein tieferes Verständnis [3] für das individuelle Verhalten in diesem Mindset ausbilden;

  2. (re)definieren, wie ein Umgang aus Organisations- und Führungsperspektive damit aussehen kann und ein organisationales Modell [4] dafür entwerfen;

  3. das Konzept des paradoxen Mindsets in Strukturen, Abläufen, Unternehmens- und Personalmanagement-Strategien, Werten und Leitlinien berücksichtigen.

“Das Problem ist nicht das Problem; das Problem ist die Art und Weise, wie wir über das Problem denken.”

— Paul Watzlawick [5]

Wie sich das Investment in den Kulturwandel auszahlt

Im Bereich Entrepreneurship hat sich das paradoxe Mindset als große Bereicherung herausgestellt: In diesem Mindset werden Probleme völlig neu betrachtet und neu bewertet. Wichtig dabei ist, dass weniger die Ideenfindung im Fokus steht als mehr die Menschen selbst – insbesondere die, die normalerweise nicht viel zu sagen haben. Ihre Innovationskraft und Kreativität gehen aus einem paradoxen System hervor – deshalb sind sie imstande, für Revolutionen zu sorgen. Viele große Führungspersönlichkeiten und Visionäre der Vergangenheit und Gegenwart waren introvertiert – ihre Ideen und Visionen haben diese Welt bewegt.

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In Organisationen finden wir jedoch oft ein Umfeld vor, das sich auf die Ideenfindung und den Austausch von Ideen fokussiert. Das kann dazu führen, dass sich die Situation noch verschärft. Große Aufmerksamkeit widmet man der Frage nach dem Warum (“Start with the why”) – was häufig in der Sache bleibt und zum Problem zurückführt. Was sich hingegen auszahlt, ist die Frage nach dem “Wer”. “Good to great” kam zu diesem Ansatz und konnte dafür empirische Erkenntnisse aus einer 5-Jahres Untersuchung aufzeigen. Der gesamte Emotional Intelligence Diskurs (Goleman) konzentriert sich auf die Person, Emotion und Identität.

Das ist auch einer der Gründe, warum wir sh|ft begonnen haben. Neben der Sache (Warum), also dem Anliegen, ungewöhnliche Partner*innen von Wirtschaft, Kirche und Gründer*innen in aktuellen Fragen der Zeit zusammen zu bringen, lautete unser zentrales Anliegen: einen Raum zu schaffen, der Menschen mit leisen und ungewöhnlichen Stimmen eine Plattform bietet. Der Fokus liegt dabei in erster Linie auf der Förderung der Person und in zweiter Hinsicht auf dem Anliegen, dem Warum. Innovationskraft entsteht nach unserer These, wenn eine Person sich entdecken und entfalten kann. Dann wird sie Widersprüche in existierenden und zukünftigen Strukturen nicht nur aushalten, sondern auch nutzen können. Als Rahmen dazu verbinden wir ungewöhnliche Menschen und gestalten gemeinsam (Co-Creation) ein ungewöhnliches Partner-Eco-System von Universitäten, Kirche, Social Business und Startups – Spannung(en) garantiert!

“Die meisten großartigen Ideen entstehen in der Einsamkeit.”

— Susan Cain

Praktisch werden

Unternehmen, die den „Verrückten“ Raum geben, ohne eine monorationale Agenda zu verfolgen, sind schwer zu finden (bspw. Produktfirmen und Kreativagenturen, die an die Marktentwicklung, Gesellschafterinteressen gebunden sind). Um praktisch zu werden, haben wir deshalb sh|ft entwickelt: Framework, Plattform und Initiative in einem, bei der „die Verrückten“ eine Community, Raum für Exploration und Publikationen über unsere Entdeckungen und Ergebnisse vorfinden. 

Dabei versuchen wir in unserem Raumdesign – sowohl virtuell als auch in der Realität – zu berücksichtigen, dass Einsamkeit und Begrenzungen Kreativität fördern und spürbare Spannungen Innovation begünstigen. Um einen solchen Kreativraum zu eröffnen, haben wir ein Non-Profit-Modell gewählt, das nicht von der Marktentwicklung oder von Kundenanforderungen abhängig ist. sh|ft muss sich zwar noch bewähren, doch bereits jetzt zeichnet sich ab: Das Modell wird beiden Bereichen gerecht, die in einem paradoxen Mindset erforderlich sind: Es spricht einerseits die kognitive Ebene an und bietet andererseits Raum für Emotionen [6]. sh|ft hat es sich zum Ziel gesetzt, den „Verrückten“ zuzuhören.

Klaus Motoki Tonn, Initiator von sh|ft und weiteren Initiativen zwischen Kirche, Social Business und Wirtschaft. Forscht im Umfeld von Diakonie (IDM Bethel) zu Corporate Digital Responsibility und engagiert sich im Umfeld von digitaler Kirche und sozial verantwortlichem Gründertum / Entrepreneurship.

Quellen

[1] M. Curley, B. Salmelin, Openness to Innovation and Innovation Culture in Open Innovation 2.0, Innovation, Technology, and Knowledge Management, Springer International Publishing Switzerland 2018.

[2] Das Zitat wird Orson Wells zugeschrieben.

[3] „Paradox theory deepens understandings of the varied nature, dynamics and outcomes of organizational tensions“, Microfoundations of Organizational Paradox: The Problem is How We Think About the Problem.

[4] Communicative, ethical and strategic framework to manage corporate culture, Mindset als Form der Implementierung von CSR in das Business Model, Klaus Motoki Tonn, Manaén Yosef Stürenberg Herrera.

[5] Watzlawick, Weakland & Fisch, 1974.

[6] „As research suggests, managing conflict is not just a mental exercise, but depends on managing emotions as well.”

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Warum Vorsicht der falsche Weg ist