Die Netflix-Kultur: Film oder Fakt? // Essay
“Es mag das wichtigste Dokument jemals aus Silicon Valley sein,” so Facebook COO Sheryl Sandberg. Oha! Wenn das mal keine Ansage ist! Um den Claim noch erstaunlicher zu machen: Sandberg spricht von einer 124-seitigen PowerPoint. Und von einem HR Dokument. Sie meint damit Netflixs Personalstrategie, die 2009 für Furore sorgte und seitdem Viele inspirierte. Der Titel des Dokuments lautet „Reference Guide on our Freedom & Responsibility Culture“ und enthält ein paar steile Ambitionen für modernes HR. Daher die Welle – weil HR oft nicht für steil oder modern bekannt ist. Jetzt sind fast 10 Jahre um – und wir haben uns gefragt: wie läuft’s denn so, Netflix?
Freedom & Responsibilty wurde von Patty McCord (Head HR, Netflix) in Zusammenarbeit mit ihrem CEO Reed Hastings entwickelt, um ihre Personalphilosophie zu beschreiben. Das ist eine gute Idee – eine Grundüberzeugung wie das mit Personal und Kultur zu laufen hat. In unsrer Analyse haben einige Unternehmen (wie Pixar, Google, GE, Apple oder eben Netflix) den Mumm gehabt, ihre Kultur mit einer klaren und konträren Denke auszurichten. Wir haben das in Case Studies aufgearbeitet und diese Kulturen unterscheiden sich inhaltlich, sind aber jeweils in sich durchgängig und klar. Die HR-Philosophie von Netflix startet mit einer simplen Frage:
Welche Kultur brauchen wir als Netflix, um über mehrere Generationen Erfolg zu haben?
Als Antworten folgen 7 Aspekte und jeweils einige Ausführungen. Manches davon ist erstaunlich austauschbar („wir brauchen Passion“) und anderes ist erstaunlich („harte Arbeit ist nicht so wichtig, Effektivität ist“ oder „Prozess vertreibt gute Leute“). Das Dokument kann man hier sehen und ein Harvard Business Review Artikel beschreibt die Ideen. Wenn Leute das Dokument im Hinterkopf haben, dann kommen häufig zwei Sprüche, die wir näher unter die Lupe nehmen:
1) Behandle Mitarbeiter wie Erwachsene
2) Lass Mitarbeiter ihren eigenen Urlaub festlegen
Um mit der Analyse zu starten beginnen wir mit dem Brain hinter dem Dokument – Patty. Mr. McCord tummelte sich die ersten Jahre durch verschiedene HR-Rollen im Silicon Valley (Seagate, Sun, Borland) bis sie dann 1998 als „Chief Talent Officer“ zu Netflix stieß. Damals war der Streaming-Gigant noch mehr Idee als Organisation und Pattys Rolle bestand darin, die Kultur zu formen. Wie sie später sagte, sprach CEO Reed Hastings sie an: „Lass uns die Firma aufbauen, von der wir immer geträumt haben. Eine Firma, bei der wir immer noch gern arbeiten, wenn sie erfolgreich geworden ist.“ Und Patty war sold.
10 Jahre später kam dann das berühmte Dokument. Es ist eine Mischung aus gesundem Menschenverstand, Silicon-Valley-Mut und pragmatischer Attitüde. Daher auch die Wirkung: „Weil es sehr logisch und wahr ist.“ (Business Punk Interview) Zur vollständigen Story gehört sicher auch, dass Patty drei Jahre nach dem Dokument den Absprung von Netflix machte und heute als Autor und Consultant ihre Ansichten verbreitet. Gab es Stress? Hat es nicht funktioniert? Da forscht man vergeblich. Aber es passt zu Patty (und wohl ihrer Philosophie): es ist dumm, Mitarbeiter ewig halten zu wollen. Da ist er wieder: der Common Sense und Mut.
Behandle Mitarbeiter wie Erwachsene.
Im Netflix Dokument schimmert die einfache Maxime durch, die man seither immer wieder in HR-Diskussionen hört: „Mitarbeiter wie Erwachsene behandeln“. Das ist nett und trägt den passenden Klang für unsere Zeit und Lage. Wie sieht das in der Realität aus?
Wir Geübte im Umgang mit Erwachsenen müssen feststellen, dass Erwachsensein keine digitale Option ist. Menschen sind unterschiedlich erwachsen, auch über 18 Jahren alt. Schau in Management Meetings. McCord spricht sicher von Respekt und Verantwortungsbewusstsein. Beim Blick auf HR-Fragen stößt man hier leider schneller an Grenzen als einem lieb ist. Beispiel Gehälter.
Wir waren kürzlich mit einem Shooting Star der Startup Szene in Deutschland im Gespräch. Dort läuft das Produkt und sie können gar nicht schnell genug Mitarbeiter finden. Bisher gibt es keine Regeln zur Gehaltsfindung außer gesunder Menschenverstand. Und kaum sind sie über 500 Personen kommt ein Drama nach dem nächsten. Mitarbeiter reden miteinander – und des einen Common Sense ist nicht gleich des anderen Common Sense. Diskretion führt zu Gehaltsgefälle ohne Erklärung – und das führt zu Frust und Diskussionen.
Dann werden Anpassungen gemacht - das ganze Jahr durch. Nächstes Thema. Man trainiert die Organisation auf permanente Gehaltsverhandlungen. Um dieses Chaos in Bahnen zu lenken sind wir schnell beim Prozess und den Regeln – wann wird mit welchem Maßstab Gehalt angepasst. Zack, Regel. McCord hat Recht, dass Wachstum Regeln braucht und das schnell aus dem Ruder laufen kann. Und dann wird es inflexible und die guten Leute springen ab. Aber Regeln schaffen Gleichheit, was der ganzen Organisation guttut. Es ist eine feine Balance zwischen Regeln und zu vielen Regeln.
Erwachsenen-Mentalität reicht nicht. Nimm Home Office. Vor 2 Jahren machte die Runde, wie Yahoo seine Mitarbeiter wieder zurück ins Cubicle pfiff, weil das Arbeiten zuhause zu viele unerfreuliche Nebenwirkungen hatte. Wir kennen das: schreiende Kinder im Hintergrund auf dem Spielplatz, Echos in der Stimme von welchem Örtchen auch immer, oder das „Webcam geht gerade nicht“ Thema. Erwachsene: ja. Aber soo weit trägt die Idee auch nicht.
Warum dann die große Resonanz? Weil die Idee sinnig und direkt ist. Der unterschwellige Ton in zu vielen Unternehmen ist zu hierarchisch. Viele Personalprozeduren sind komplex und wenig nachvollziehbar. Und Leute heute kommen nicht mehr zur Ausbildung, um in der gleichen Firma in die Rente zu gehen. Sie können wechseln und tun das immer häufiger. Da brauchen Organisationen ein Update ihres Menschenbilds und müssen Mitarbeiter mehr wie Freiwillige oder Freelancer behandeln. Und in der Zeit der Wissensarbeit kennen Mitarbeiter die Jobs häufig besser als Vorgesetzte oder Senior Manager. Die Förderung von Verantwortung und Eigeninitiative braucht da entsprechende Personalprozesse und Kultur, da hat Netflix recht.
Der unbegrenzte Urlaub
Die größte virale Wirkung hatte wohl ein Beispiel im Netflix-Deck. Dort wird beschrieben, wie Netflix das Urlaubskontingent abschaffte und jeder selbst entscheiden konnte, wann und wie lange er in Urlaub geht. „Wenn wir Arbeitszeiten nicht aufschreiben,“ so die Logik im Dokument, „warum schreiben wir dann den Urlaub auf?“. Fairer Punkt – aber wie viel steckt da eigentlich als Benefit?
Zunächst muss man betonen, dass Urlaub in den USA anders vergeben wird als hierzulande. Wir sind per Gesetz dazu befugt, 24 Tage zu nehmen. Die meisten Unternehmen machen 30 Tage – und die Fälle, die das nicht machen bekommen immer mehr Stress damit, wie wir im Recruiting bei Firmen erlebt haben. In den USA ist da nichts per Gesetz geregelt – und öfter mal startet da jemand mit keinem einzigen Urlaubstag in den Job. Urlaub wird gerne als Retention-Instrument genommen (5 Tage nach 1 Jahr, 10 Tage nach 3 Jahren, etc etc, 30 Tage nach 25 Jahren). Im Schnitt nehmen Amerikaner 12 Tage Urlaub, 42% nehmen im Jahr gar keinen Urlaub.
Da das all-you-can-vacate Buffet zu eröffnen ist also mal ne Ansage. Daher auch die virale Wirkung in den sozialen Medien. Aber das ist mehr Marketing als Realität. Hoch motivierte Mitarbeiter werden kaum die 4-6 Wochen Urlaub nehmen, die ihnen zustehen. Viele Unternehmen haben das Problem von ungenutztem Urlaub und lösen es durch Verfallsfristen zum 31. März des nächsten Jahres. Daher die Welle an Eltern mit ihren Kindern auf dem Spielplatz in den letzten zwei Märzwochen.
Seit einigen Jahren ist Vertrauensarbeitszeit zunehmend usus. Kein Stundenzettel und freie Wahl der Arztbesuche. Die Realität hier ist, dass es sehr zu Gunsten der Unternehmen geht. Wer unterschreitet schon seine 40 Stunden permanent? Welches ambitionierte Unternehmen hat nicht zig Fälle mit Work-Life Balance Workshops, in denen das Life vor der Work gerettet werden muss?
Bei Netflix: welcher Arbeiter würde sich schon 70 Tage Urlaub nehmen, einfach weil er es kann? Und wie lange würde Netflix das mitmachen? So was geht dann auch nur, wenn der Kündigungsschutz entsprechend locker ist. Hierzulande würde man mit so einer Policy ziemlich zu kämpfen haben, Missstände wieder zu korrigieren. Aber selbst in den USA hat diese Urlaubsregel mehr mit Marketing zu tun als mit praktischen Benefits für die Mitarbeitenden. Kommt jemand wirklich zu Netflix, weil man theoretisch endlos in den Urlaub kann?
Aber auch hier zeigt sich die Netflix-HR Logik stimmig. Sie ist mutig, hinterfragt und schafft ab, was nichts taugt. Und deshalb hat sie zurecht solch große Aufmerksamkeit bekommen. Eine Ansage zur Kultur zieht schon Mitarbeiter an, selbst wenn es mehr Schein als Substanz ist. Generell sollten Unternehmen sich im HR mehr selbst herausfordern und klarere Stellung zur Einfachheit beziehen. Da geht sicher noch einiges.
Film oder Fiktion
Der Netflix Fall verdeutlicht uns, dass sich unsere Welt ändert. In der Wissensarbeit brauchen wir neue Modelle, die nicht aus dem Taylorismus der Fabriken kommen und über der Klassenkampfmentalität stehen. New Work braucht neue Regeln. Personal hat noch einiges an Potenzial in sich, das Spiel vorne mitzuspielen. Immer mehr Unternehmen merken, dass Mindset und Kultur Geheimwaffen sein können. Peter Drucker wird der Satz zugeschrieben: „Kultur verspeist Strategie zum Frühstück“. Und Recht hat er. Wer Personalphilosophie als zu abgehoben abtut und New Work als Spielerei aussortiert, bleibt in der Zeit stehen. Wer einen klaren Mindset für seine Organisation entwickelt und seine Kultur schärft wird vorne dabei sein. Das kann man auf Netflix sehen…
Marlin Watling war 15 Jahre im Personalmanagement, ist aktuell Partner bei Lumen und schaut gerne Serien auf Netflix, egal ob Fakt oder Fiktion. Er berät gerne Organisation zu Mindset-Themen.